Wir schreiben das Jahr 2017. Die Sonne ist schon längst hinter den Bäumen verschwunden und mit ihr die Hitze des anstrengenden Tages. Der Schweiß klebt noch auf der Haut und ist einer der letzten Zeugen der Temperaturen, die nun stark gefallen sind. Maryi Alfayeds (Anmerkung: Name von der Autorin geändert) Beine sind schwer, genauso wie die Kinder auf ihrem Arm. Maryi ist kalt. Gemeinsam mit zehn oder elf Männern und einer weiteren Frau sitzt sie auf dem Waldboden - irgendwo in Griechenland. Wie viele Tage sie schon unterwegs sind? Maryi weiß es nicht mehr genau. Keiner der Gruppe hat seit ihrem Aufbruch etwas gegessen oder getrunken, nicht einmal die Kinder. Einem 24-Jährigen wird es in dieser Nacht zu viel. Er weint laut, möchte zurück zu seinem Vater. Da hält ihm der Mann, der die Gruppe anführt, ein Messer an die Kehle: "Wenn du noch einen Mucks machst, töte ich dich. Niemand würde es mitbekommen.” Es wird wieder ruhig im Wald, irgendwo in Griechenland.
"Je mehr Geld du hast, desto weiter kannst du fliehen”
Rückblick: Maryi Alfayed ist 1986 im Irak geboren. Sie hat einen Bruder und eine Schwester. Maryi schreibt gute Noten, geht sogar aufs College und wird studierte Agraringenieurin. Dann heiratet sie - und ihr Leben verändert sich. Normal für eine frisch verheiratete junge Frau, könnte man denken, wenn da nicht der Krieg wäre, der ihr Heimatland immer wieder heimsucht. 2017 ist es für die junge Familie schließlich nicht mehr auszuhalten. "Mein Mann hatte Probleme bekommen mit vielen Leuten”, erinnert sich Maryi zurück. Etwa eine Woche überlegen die beiden, bis sie sich dazu entscheiden, mit den gemeinsamen Töchtern aus dem Irak zu fliehen. "Wir hatten nur eine Tasche dabei”, erinnert sie sich und schüttelt den Kopf.
Zuerst fliegt die Familie in die Türkei. Dort verbringt sie etwa zwei Monate, bis sie sich mit einer kleinen Gruppe zu Fuß auf den Weg nach Griechenland macht. "Es ist so: Je mehr Geld du hast, desto weiter kannst du fliehen. Ansonsten musst du zu Fuß weiter”, sagt Maryi. Und so kommt es, dass sie, ihr Mann und die zwei Töchter eine Woche lang durch den Wald zu einem Flüchtlingscamp laufen - ohne zu wissen, was sie erwarten könnte, ohne Essen, ohne Trinken. "Es war sehr schlimm. Echt. Aber heute bin ich dankbar, denn uns hätte viel Schlimmeres passieren können”, ist sich Maryi sicher. Ihre Schwester floh später über denselben Weg aus dem Irak und wurde gefangen genommen. Sie verbrachte laut Maryi ein Jahr in Gefangenschaft. "Sie wurde behandelt wie ein Tier”, sagt Maryi und schaut zu Boden. Details möchte sie nicht erzählen.
Vom Irak nach Deutschland
Schließlich kommt die Gruppe in einem Flüchtlingscamp an. Von dort geht es für Maryi und ihre Kinder alleine weiter, denn das Geld reicht nicht für die ganze Familie. Die junge Frau landet mit ihren Töchtern in Berlin und steigt ohne Fahrkarte in einen Zug. "Ich wusste nicht, wo ich bin, wo der Zug hinfährt, wie man eine Karte kauft. Ich konnte ja nichts lesen, mit niemandem sprechen und Geld hatte ich auch kaum noch welches”, erzählt Maryi entschuldigend. Mit nur noch 50 Euro in der Tasche steigt sie dann in Braunschweig aus und spricht auf der Straße einen Mann an. "Er war Araber, das gab mir irgendwie Vertrauen. Ich fragte ihn auf Arabisch: Wo bin ich jetzt? Er half mir, mit den Kindern in ein Flüchtlingscamp in Braunschweig zu kommen”, erinnert sich Maryi dankbar.
Kein Zurück in den Irak
Gut drei Monate vergehen, bis Maryi 2018 mit ihren Kindern und ihrem Mann, der nachkommen konnte, in eine Wohnung in Alfeld einziehen kann. Die beiden Töchter sind zu dem Zeitpunkt erst drei und anderthalb Jahre alt. Es ist viel für die junge Frau. "Ein neues Land, eine neue Kultur. Und mein Mann wollte wieder zurück in den Irak. Er hat gesagt, er könne nicht hierbleiben. Aber ich wollte hier bleiben mit meinen Kindern”, sagt Maryi ernst. "Als Frau im Irak zu leben ist schwer”, erinnert sich die heute 37-Jährige zurück, "du musst immer auf das hören, was die anderen sagen.” Nach ihrer Heirat ist Maryi acht Jahre lang Hausfrau. Ihr Mann entscheidet, dass sie nicht arbeiten gehen darf, sondern sich um Haushalt und Kinder zu kümmern hat. "Mann und Kinder sind dort das Wichtigste im Leben einer Frau”, sagt Maryi und lächelt traurig. So ein Leben wünscht sie sich nicht für ihre Töchter.
"Ohne Arbeit, ohne Freunde hat das Leben keinen Sinn”
Das Paar trennt sich schließlich nach zehn Jahren Ehe. Maryi hält an ihrem Entschluss fest, in Deutschland zu bleiben. Ihr Mann geht zurück in den Irak, verlässt das Leben seiner Familie zunächst aber nicht. "Wir hatten noch viele Probleme mit meinem Mann. Ich war schließlich bei der Polizei, um meine Adresse verschleiern zu lassen”, erinnert sie sich. Dabei und bei vielen weiteren Behördengängen hilft ihr damals Ako Kinik. Er ist Diplom-Sozialarbeiter und arbeitet seit 20 Jahren für den Caritasverband für Stadt und Landkreis Hildesheim.
Maryi war damals nicht nur wegen des Endes ihrer Ehe an einem Tiefpunkt in ihrem Leben. "Ich durfte in Deutschland nicht in meinem Beruf arbeiten. Ich musste erstmal 15 Monate hier sein, bevor ich einen Sprachkurs machen durfte. Und der ist die Voraussetzung für Arbeit”, erklärt Maryi. So bleibt Maryi ein Jahr lang zuhause, allein. Nur zum Einkaufen und um die ältere Tochter in den Kindergarten zu bringen, verlässt sie damals das Haus. "Mir ging es sehr, sehr schlecht”, erinnert sie sich. "Ohne Arbeit, ohne Freunde hat das Leben keinen Sinn. Du musst doch raus, Leute treffen”, sagt Maryi.
Das Kulturcafé in Giesen als rettender Anker
Es ist Ako Kinik, der Maryi aus ihrem Loch holt und zum Kulturcafé nach Giesen, ihrem neuen Wohnort, bringt. Eine der Ehrenamtlichen dort, Renate Gorski, nimmt sich ihr an und gibt ihr privat vier Monate lang jeden Vormittag Deutschunterricht. "Ich habe meine Tochter morgens in den Kindergarten gebracht und bin dann weiter zu Frau Gorski. Sie ist mittlerweile wie eine Mutter für mich”, erzählt Maryi. Noch heute geht Maryi jeden Dienstag von 16 bis 18 Uhr zum Kulturcafé. Jetzt ist sie eine derjenigen, die Hilfe anbieten können: "Momentan sind dort viele Leute aus Afghanistan, dem Irak, Iran oder Syrien. Ich spreche ja Kurdisch und Arabisch, da helfe ich gern bei Sprachproblemen.” Aber auch zum Sitzen, Reden und Freundinnen treffen geht Maryi gern zum Kulturcafé.
"Integration ist immer wichtig. Aber die Leute, die herkommen, wissen nicht weiter, wissen nicht, wohin. Man muss sich die Hilfe suchen, denn die Caritas zum Beispiel weiß nicht, wo sie mich finden kann”, sagt Maryi. Die Chancen, Hilfe zu bekommen, seien in Deutschland hoch. Aber man müsse sie aktiv suchen, meint Maryi. Deshalb sei sie umso dankbarer dafür, dass Ako Kinik ihr damals geholfen hat. "Wenn ich mich bis morgen hier hinsetzen und mich bedanken könnte, würde das immer noch nicht ausreichen”, beteuert Maryi mit glasigen Augen.
Heute macht Maryi Alfayed eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin, bald heiratet sie zum zweiten Mal. Ihre ältere Tochter ist mittlerweile zwölf Jahre alt und besucht die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim. Die jüngere geht auf die Grundschule in Giesen. Zu ihrem Ex-Mann haben Maryi und die Kinder seit fast fünf Jahren keinen Kontakt mehr. Maryi und ihre kleine Familie sind angekommen in Deutschland, wenn auch der Weg dahin ein holpriger war. "Man braucht Geduld. Aber wenn man möchte und Hilfe bekommt, kann man alles erreichen”, erklärt Maryi.